Einführung
Vor Indien im Meer
Multiple Materialprovenienzen in der Musik von Stefan Wirth
Von Theo Hirsbrunner
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Interview
Interview mit Stefan Wirth
Stefan, du hast bei Theaterproduktionen von bekannten Regisseuren wie Frank Castorf und Christoph Marthaler mitgewirkt. Wie sah deine Arbeit dort aus?
Ich habe als Musiker auch auf der Bühne mitgewirkt. Meine Funktion war sehr vielfältig, so war ich Musiker, Schauspieler und Arrangeur. Das war für mich als Komponist bereichernd. Vor dieser Erfahrung ging ich beim Komponieren mehr von vorgefassten Plänen aus. Bei Marthaler habe ich beobachtet, dass er von der Szene aus geht, von einzelnen Funken, Ideen. Die Grossform ist erst ganz am Schluss klar. Das hat mein Denken beeinflusst.
Inwiefern?
Seine Arbeit hat mich darin bestärkt, beim Komponieren zu Beginn eines Stücks keine Grossform auszuarbeiten, wie dies viele Komponisten tun. Das geht mit meiner Arbeitshaltung einher: Es interessiert mich nur, ein Stück zu schreiben, das ich noch nicht kenne. Ich möchte einen Faden zu verfolgen beginnen, von dem ich nicht genau weiss, wo er hinführt. Ich nehme Fährten auf, schnuppere, wo es entlang gehen könnte. Immer mit einem «strukturellen Backup» gewissermassen. Das Gleichgewicht bleibt dabei labil, ich möchte mich immer auch auf Überraschungen einlassen können. Ich schreibe auch stets eine Partitur von Anfang bis Schluss aus, Particelle existieren bei mir nicht. Eine permanente Detail-Arbeit ist mir ausserordentlich wichtig, ich gehe immer vom Detail ins Ganze. Ich möchte das Stück so schreiben, wie ein Hörer, der es gerade zum ersten Mal hört. Dabei liegt mir sehr viel daran, eine gute Dramaturgie zu finden, damit das Stück für den Hörer spannend bleibt. Mir ist aufgefallen, dass ich ein Musiker bin, der sehr viel Musik hört. Das ist gar nicht selbstverständlich.
Welche Musik hörst du denn?
Ich höre alles Mögliche. Allerdings sehr wenig Pop-Musik, ausser, wenn ein Freund mich auf etwas aufmerksam macht. Ich höre viel Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, massenhaft französische Impressionisten und englische Pastoralisten aber auch spätmittelalterliche Musik. Ich höre auch gerne Musik, die ich nicht schreiben würde, ich habe diesbezüglich kein geschlossenes Weltbild. Eigentlich bin ich da im genauen Widerspruch zu einer Haltung, die Strawinsky einmal formulierte, als er sagte, dass ihn nur das Verfertigen der Musik interessiere, nicht aber das Hören des fertigen Resultats. Bei mir ist das anders: Mich interessiert es nur, Musik zu schreiben, damit ich sie nachher hören kann.
Wie gehst du als Pianist und Komponist, der sich in der Neuen Musik bewegt, mit Tradition um?
Natürlich habe ich eine starke Verankerung in der Tradition. Ich genoss eine normale Konservatoriums-Ausbildung und habe als Pianist viele Komponisten der Musikgeschichte gespielt. Dabei kann ich sagen, dass mich von den gespielten «Repertoirekomponisten» besonders Chopin, Schumann, Debussy und Ravel stark geprägt haben, weniger hingegen Bach oder Brahms.
Eigentlich weiss ich nicht so genau, was «die Tradition» ist, wahrscheinlich interessieren mich nur die Stücke, die sich niemals so sehr in eine bestimmte Tradition einreihen liessen. Robert Schumann ist ein gutes Beispiel: Natürlich kann man sagen, er schreibe im Stile der deutschen Romantik, aber plötzlich passieren auch Dinge, die weit über diese Kategorien hinausgehen. Es ist Schumanns Originalität und seine Art, die Musik zu denken, die diese bis heute lebendig und faszinierend erscheinen lassen.
Wie würdest du deine Musik beschreiben?
Ich finde es reizvoll, assoziationsreiche, farbige Musik zu schreiben. Für jedes Stück suche ich einen eigenen Klang und eigene formale Prinzipien und versuche mit diesen einen neuen, lebensfähigen Organismus herzustellen. Ich bin kein Pu- rist und mag es auch als Hörer, möglichst viele Assoziationen beim Anhören von Musik zu haben. Umgekehrt bin ich auch absolut kein Postmodernist und würde niemals mit überdeutlich herausgestellten Zitaten arbeiten. Die Einflüsse müssen für mich im Werk assimiliert und verwoben werden.
Ich habe also einerseits eine Art Forschermentalität beim Komponieren Ich möchte z. B. etwas herausfinden über Klang und Polyrhythmus, über die Art, wie die beiden Kategorien interagieren. Das Stück, das ich schreibe, ist also eine Art Experiment zu dieser Fragestellung. Andererseits ist das Resultat jedoch, anders als bei der Naturwissenschaft, nicht eine Formel, sondern ein Objekt der sinnlichen Anschauung, etwas, das man erleben und auch geniessen kann.
Ich bin nicht wirklich ein «fierce intellectual», der die Musik dem Denken zuschlagen muss. Ich denke, dass Komponisten die Aufgabe haben, originäre, musikalische Erlebnisse zu schaffen, die nur in der Musik möglich sind, und die nicht unbedingt einer weiteren Erklärung bedürfen. Diesen Punkt zu erreichen ist sehr schwer. Ich denke, es ist diese Suche, die einen Komponisten ein Leben lang umtreibt.
Die Wahl für deine Stück-Besetzung ist abwechslungsreich: Perkussion, Harfen und Streicher. Was steckt hinter dieser Idee?
Das ist genau wieder eine solche Forschungsidee. Was stelle ich der Solo-Oboe gegenüber? Zunächst erschien es mir reizvoll, auf andere «konkurrenzierende» Blasinstrumente zu verzichten. Die reine Streicherbesetzung schien mir als klas- sischer Begleitkörper allerdings auch suspekt. Durch die Herbeiziehung von Perkussion erhoffe ich mir mehr Möglichkeiten, die Oboe in einen interessanten Kontext zu setzen. Die Oboe kann bekanntlich sehr lyrisch und legato spielen, wie die Streicher auch, sie kann aber auch unglaublich kurz und trocken artikulieren, wie
es die Streicher nur im Pizzicato können. Diese Eigenschaft der Oboe kann durch Zuhilfenahme von Perkussion viel deutlicher herausgearbeitet werden als nur mit Streichern. Die Harfe schliesslich ist eine Art Mittelding, sie spielt, auch wenn sie lange Melodien zu spielen hat, immer Pizzicato (mit Nachhall) und ist so ein wei- teres Bindeglied zwischen Pizzicato- und Legato-Klanglichkeit.
Somit bildet sich für mich ein anregendes Arbeitsfeld, die Oboe klanglich mit all diesen Dingen zu verbinden. Ich möchte die Oboe einflechten in diesen Klangap- parat und sie nicht – wie im traditionellen Solokonzert eher üblich – gegenüber dem Orchester abheben. Ich möchte aber auch nicht ein Anti-Oboen-Konzert schreiben. Ich werde versuchen, das Instrument auf möglichst vielfältige Art zum Leuchten zu bringen. Dadurch, dass ich Matthias Arter gut kenne, weiss ich auch, welche erweiterten Spieltechniken ich bei ihm anwenden kann. Zum Beispiel das «alla Tromba»; hier wird das Mundstück weggenommen und direkt ins Instru- ment geblasen, dabei vibrieren die Lippen, wie beim Trompetenspielen. Die Oboe klingt dabei wie ein archaisches Volksinstrument, rau und melancholisch – ein Effekt, den Matthias Arter wunderbar umzusetzen versteht.
Das Interview führte Ramona Picenoni.
STEFAN WIRTH (*1975):
ETÜDE 3/2004 (DRS 2 «Musik unserer Zeit –
Der Komponist Stefan Wirth». Aus «5 Etu?den fu?r
Piano
», rec. 2007. Stefan Wirth, Piano. DRS2
2009).
KW: Sehr beeindruckend! Es ist eine grosse
Spannung in diesen Repetitionen und Sekundreibungen,
die ganz lang durchgehalten wird;
und schön der Gegensatz dazu in den tiefen Bässen
… Sind das wieder zwei Klaviere, denn mit
einer Hand kann man das eigentlich nicht machen?
Katharina Weber in „Revue Musicale Suisse“, 11. Nov. 2009:
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